Zwischen strenger Form und lustvoller Bewegungsorgie

Besucherrekord: 9000 Zuschauer sahen 15 Aufführungen und ein attraktives Rahmenprogramm zur 11. euro-scene Leipzig

Die diesjährige euro-scene überraschte gleich mehrfach. So gab es nach dem erfolgreichen Jubiläumsfestival im vergangenen Jahr nicht etwa eine Ruhepause im Erfolgsbett der letzten zehn Jahre. Nein, der 11. Jahrgang versuchte kühn den Aufbruch in das nächste Dezennium. Und 9000 Zuschauer, mehr als je zuvor, sahen 130 Künstler aus acht Ländern in rund 30 Veranstaltungen.

Das erstmals von Michael Freundt als künstlerischem Leiter verantwortete Programm hielt unter dem Motto "Leibesvisitationen" (fast) alles, was damit versprochen wurde: Theater und Tanz aus Europa - zeitgenössisch, ungewöhnlich, verblüffend, radikal, vital, mutig, komödiantisch, assoziativ. Ein Angebotsspektrum von streng geformtem, virtuosem Tanz über lust- und kraftvolles Körpertheater bis zur ekstatischen Bewegungsorgie. Eine Skala der Gefühle im rasanten Auf und Ab. Also all das, was avantgardistischem Antrieb eigen ist und junges, wie jung gebliebenes Publikum herausfordert, wenn der menschliche Körper in seiner Stärke wie in seiner Verletzlichkeit im Fokus steht. Auch wenn es sich in unterschiedlich gelungener Ausprägung und Überzeugungskraft in den einzelnen Aufführungen äußert. (Bis hin zum Abbruch der Performance "Aktion 398". Da hatte wohl der Londoner Franko B seinen Körper zu sehr ins Spiel gebracht.)

Zu den Höhepunkten gehörten zweifellos die Gastspiele von Angelin Preljocaj mit "Helikopter & MC 14/22" und Oskaras Korsunovas "Sommernachtstraum". Dazu gesellte sich am Wochenende Wim Vandekeybus' Truppe Ultima Vez aus Brüssel mit "Die inneren Felder aufreißen". Eine furiose Entdeckungsreise von sieben Tanzdarstellerinen in die letztlich unergründlichen Tiefen des Mythos Frau, verwoben in ein spannungsvolles Beziehungsgefüge, entäußert in Tanz und Spiel zwischen stiller Zartheit und ekstatischer Enthemmung. Faszinierend.

Insgesamt ein spannendes Programm mit immerhin zwei Uraufführungen und sechs Deutschlandpremieren - das festigt auch das Image Leipzigs im Reigen der internationalen Avantgarde-Festivals. Das soll, so Michael Freundt, auch künftig so bleiben. Darüber hinaus ist für ihn ein ganz wesentlicher Aspekt die Vernetzung der euro-scene mit Projekten und Institutionen der Leipziger Szene. Die Einbindung vorhandener Strukturen der freien Szene - neben LOFFT und Schaubühne im Lindenfels waren erstmals naTo und Werk II als Spielstätten dabei - soll fortgesetzt und auch inhaltlich intensiviert werden. Koproduktionen wie Iwaokas "FCP" könnten ein Weg sein.

Dafür spricht auch der Erfolg der 24-Stunden-Ausstellung unter dem Motto "body/check", die erstmals im Rahmen der euro-scene stattfand und zu einem zusätzlichen Zuschauermagneten wurde. Rund 100 Künstler, davon der Großteil aus Leipzig, boten ein vielfältiges Spektrum an Tanzperformances, Foto- und Video-Installationen, Fotografien, Skulpturen und nicht zuletzt Gemälden an. Die nicht-kommerzielle Szene machte sich gut in den Räumlichkeiten des Schauspielhauses und des angrenzenden ehemaligen Datenverarbeitungszentrums (DZV). In jeder noch so versteckten Ecke waren Objekte platziert. Entdeckungsfreudig wurden sie von den Besuchern bestaunt, begrabscht, benutzt, belacht.

Zum Beispiel im Erdgeschoss des DZV: ein alter Zahnarztstuhl mit federbespannten metallenen Schwingen. Nach Einwerfen einer Mark in die Konstruktion "Schmerzensflug" des Leipzigers Peter Liebe tönten grässliche Bohrgeräusche und die Stimme eines perfiden Arztes aus dem Gerät. Oder die Geräuschinstallation Joris Wallenheits: Beim Drücken der Pinsel auf ein riesiges Gemälde wurde lautes Quietschen und Pfeifen erzeugt.

Gekauft wurde auch. So auf der jahrmarktähnlichen, ohrenbetäubend lauten Versteigerung im Boxring, der in der Garderobenhalle des Theaters aufgebaut war. Zwanzig Kunstwerke gingen mehr oder minder unterbezahlt an zahlreich bietende Besucher. Die Erlöse dienen der Deckung der Organisationskosten. Die Künstler nahmen allesamt ohne Gage, dafür mit Begeisterung am Event teil.

Die euro-scene ging gestern Abend mit dem Gastspiel des Berliner Theaters Ramba Zamba und der Uraufführung "Sanduhr und Blume" von Diquis Tiquis zu Ende. Die Truppe aus Costa Rica zeigt ihre Produktion heute noch einmal (20 Uhr) in der Schaubühne im Lindenfels.

Klaus Baschleben/Patricia Batlle

© Leipziger Volkszeitung Online vom 11.11.2001