LVZ, 12.5.2006:
14.05.2006 - http://www.rundgang-kunst.de/:
50 Künstler hauchten einem verwohnten Gründerzeithaus in der Merseburger Straße neues Leben ein
Mancher jagt ihnen ein Leben lang hinterher, vergeblich.
Andere sagen von sich, sie stünden mit beiden Beinen fest auf dem Boden und
lehnten daher Phantome kategorisch ab. So oder so: Sicher ist,
dass gespenstische Erscheinungen gegenwärtig eine Hochzeit erleben. Nicht
ein Phantom geht um, sondern Dutzende. Globalisierung,
internationaler Terrorismus, Hartz IV, Neoliberalismus, Prekariat,
Rechtsextremismus, Überalterung, Sigmund Freud, Brecht, Benn und Rembrandt,
Fußball WM und Vogelgrippe, Rauchverbot und Steuererhöhung, Neoromantik und
Leipziger Schule.
Sogar die
24-Stunden-Ausstellung schien verblichen zu sein. 2004 ward sie letztmalig
gesehen - auf einem
Hinterhof in Plagwitz. Doch am 13. Mai 2006 tauchte sie unvermittelt wieder
auf. Vitaler denn je. In einem beinah schon abrissreifen Haus an der
Karl-Heine-Straße, Ecke Merseburger Straße, das derzeit einen zweiten Frühling
erlebt. Georg Reißig, Anja Sokolowski und Olaf Walter richten hier das neue Noch
Besser Leben ein - mit Salon, Kneipencafé und viel Freiraum für schöne
Ideen, 24-Stunden-Ausstellungen beispielsweise. Es war, seit 1993, die Zwölfte.
Der Titel diesmal, wie gesagt: "Phantome". Rund 50 Künstler beteiligten sich,
HGB-Studenten wie Meisterschüler, Maler und Maschinenkünstler, Fotografen
und Videoartisten, Autodidakten, Besessene.
Jim Whiting ließ es auf dem Dachboden, wo unlängst noch eine
Marx-Engels-Werkausgabe gefunden wurde, spuken. Andreas Jeriga und Sandro Porcu
bauten ein ehemaliges Außenklo zum Miniwhitecube um und stellten einen
Spielzeugfiguren-großen Hund mit Horn in die rechte hintere Ecke, "Einhund". Die
Anspielung auf
Olaf Nicolais "Einhorn" in der Galerie Eigen+Art ist evident. Peter W.
"Karotz" Holden ließ "The man who was never there" von unten gegen den Holzboden
treten. Der Maler Steve Lewis richtete ein Schattentheater zum Selberspielen
ein. Alexandra Nemecky ließ rosa Puppenphantome durch den Raum schweben.
Cornelia Bengsch ließ Norman Bates' Mom auferstehen, wobei die alte Psychotante
noch immer recht abgemagert, knochig geradezu, wirkte. Phantomschmerzen und
-bilder waren erwartungsgemäß gern behandelte Themen.
Die nächste 24-Stunden-Ausstellung soll bereits im Herbst stattfinden. Wir
werden sehen.
hep
Fotos von der zwölften 24-Stunden-Ausstellung "PHANTOME"
PHANTOM-Fotos von Florian Meerwinck
PHANTOM-Dokumentation von Florian Meerwinck
PHANTOM-Fotos bei ||Best|Picture|Point||
PHANTOM-Fotos von Joachim Blobel
LVZ - 14.5.2006:
Misses Bates lässt sich nichts anmerken. Die längst verweste Mutter von Alfred
Hitchcocks Motel-Besitzer Norman Bates sitzt reglos wie immer mit dem Rücken zum
Betrachter im Stuhl. Ihr Totenschädel verzieht keine Miene, und das monotone,
vom gestörten Filius nachgeahmte leise Fluchen entrinnt den Lautsprechern. Nur
der Schöpferin der Installation „Mutter“, Cornelia Bengsch, läuft in der Nacht
ein Schauer über den Rücken: Das Messer, das sie unterm Stuhl drapiert hatte,
ist verschwunden.
Es ist wohl einer der Besucher der 24-Stunden-Ausstellung gewesen, der heimlich
den thematischen Bogen zu Inka Krügers Kunstwerk geschlagen hat: Das Messer
steckt in der Papp-Silhouette einer Duschenden, die ein paar Räume weiter hinter
einem Vorhang steht – dank des anonymen Eingriffs ist die berühmte Duschszene
aus „Psycho“ perfekt.
Es ist eben alles anders bei den Aktionen der GalerieRieRiemann, die sich –
bestenfalls – einmal im Jahr in meist ruinösen Leerstand einnistet, um aus ihm
von einer Mitternacht bis zur anderen einen Treffpunkt von Kunst mit Menschen zu
machen. Der Samstag im leer stehenden Mehrgeschosser an der Ecke von Merseburger
und Karl-Heine-Straße bleibt unter dem Motto „PHANTOME“ als charmanter
Gegenentwurf zum prestige- und profit-trächtigen Galerien-Rundgang im
Gedächtnis. Voll Phantasie und Spieltrieb, ohne Eitelkeit, Futterneid oder
Gewinnorientierung präsentiert sich Leipzigs Kunst-Szene einer Besucherschaft
aller Facetten von Punk bis Rentner.
Mit Blick auf den Hype des Arrivierten können es sich Andreas Jeriga und Sandro
Porcu nicht verkneifen, in ein ehemaliges Klo auf der Halbtreppe ihren „Einhund“
zu installieren – herrlich-ironische Anspielung auf Olaf Nicolais 85 000 Euro
teures schwarzes Einhorn, das er in Judy Lybkes Eigen+Art präsentiert.
Ein paar Stufen höher lädt Peter Liebe jeden ein, sich als Zahnarzt an einem
Metallgebiss zu schaffen zu machen – samt Praxisgeruch und nerven-bohrender
Geräuschkulisse. Einer der Ausstellungsknaller, vor allem für Kinder. Karotz
hingegen hat in einem Flur unter der Dielung Schuhe befestigt, die per Pneumatik
immer wieder unsichtbar den Gang entlangpoltern. Unter dickem Glas tragen die
von Andrea Rausch gefertigten Hände die Besucher auf denselben. Kerstin Rupp
fragt klug: „Glaubt Gott an sich selbst?“ oder „Würde er alles wieder so
machen?“
Thilo Egenberger, selbst „begeistert von den Ideen und dem Besucherzuspruch“,
würde. Mit seiner Crew denkt er schon über den nächsten 24-Stünder nach. Mark
Daniel
Beitrag auf
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Manuskript des Beitrages
Beitrag auf MDR info
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Manuskript des Beitrages
[Florian Meerwinck: 2006.05.16, 21:42]
Galeristen, Kreative und der Teilzeitkünstler
Leipzig-Plagwitz, Merseburger Straße 25. Beide - Stadtteil wie Haus -
haben ihre beste Zeit wohl hinter sich, zumindest muss noch eine ganze Menge
passieren, bis die Spuren des unpfleglichen Umgangs der DDR mit Altbausubstanz
beseitigt sind. Andererseits fände sich in durchgestylten Altbauvierteln mit „top-renovierten
Gründerzeitbauten inclusive Whirlpool und Tiefgarage“, wie sie in
Berlin-Prenzlauer Berg oder sonstigen hochwertigen Wohngegenden zu finden sind,
wohl kaum ein Hausbesitzer, der dazu bereit wäre, einen ganzen vierstöckigen
Stuckaltbau - vom Balkonzimmer bis zum Etagenklo - für vierundzwanzig Stunden
einer wilden Mischung von Videokünstlern, Bildhauern, Malern, Bastlern und
Fotografen zur Verfügung zu stellen.
Wobei es mit 24 Stunden ja auch nicht getan ist, schließlich sollte auch die
Auf- und Abbauzeit, gar nicht zu reden von der Vorbereitungs-, Planungs- und
Begehungsphase, nicht unter den Tisch bzw. Mörtelsack fallen. (So much for
stupid metaphors.) Aber eine Hand wäscht die andere, und das Künstlervolk musste
eben diese, die Hand nämlich, selbst anlegen und noch einige Containerladungen
Müll und Bauschutt entsorgen, bevor der mürbe Altbau zum temporären Musentempel
werden konnte. (Was mir erspart blieb. In Berlin und nicht in Leipzig zu wohnen
hat auch sein Gutes.)
Die Aussteller: die Haute Volée der Leipziger Off-Kunst-Szene, ach so, und ich
auch - mit ein paar Fotos. Das Motto: „PHANTOME“ - sehr großzügig ausgelegt,
aber niemals das Thema verfehlt. Eigentlich zu schade, um nach 24 Stunden wieder
in Beliebigkeit und Anonymität zu versinken. Eine unbeschreibliche Vielfalt, ein
beeindruckender Einfallsreichtum, der live erlebt hätte werden müssen und bei
dem Fotos (hier
und
hier und
hier) nur einen schwachen Abglanz darstellen.
Mein Raum: eine
acht Quadratmeter ehemalige Küche, noch mit Fettspritzern aus den 90er
Jahren des letzten Jahrhunderts an den türkisen Kacheln, null bis drei
Tapetenlagen, und einem Dielenboden, in dem ein bedenkliches Loch klaffte, wo
nicht noch mit Konsum-Weihnachtspapier trittschallgedämpfte Uraltbohlen lagen.
Mein Projekt: Um die 50 meiner eigenwilligen Fotos nebst Aufkleberchen für die
Betitelung an die Wände zu applizieren.
So hatte ich mich dann im voraus mit allem möglichen Zeug eingedeckt: Einer
Familienpackung Textilklebeband, auch als 50m Panzerband bzw. Gaffa bekannt, 50g
Stecknadeln, wobei deren Aufbewahrungskästchen nicht wirklich viel leerer
aussah, nachdem ich ihm die zum Fotobefestigen benötigten 204 Stahlspritzer
entnommen hatte, meinen chinesischen Plastebilligtacker nebst Munition und zwei
Zwanzigmeterrollen 80cm breiten stabilen Packpapiers, das eigentlich zum
Abdecken bei Malerarbeiten oder so gedacht ist.
„Ich stehe gerade bei Florian im Zimmer, der seinen Raum mit Gaffa tapeziert“ -
ganz so, wie von Organisator Thilo mobiltelefonisch durchgegeben, war es dann
zwar nicht, aber das silbrige Klebeband hat schon in beträchtlichem Umfang dazu
gedient, etliche Meter des bräunlichen Papiers leidlich gerade und unzerknittert
an Wänden und Boden zu fixieren - um mürbe Dielen zu kaschieren und von besagten
204 Stecknadeln durchbohrt zu werden, die
Fotografien in wohldurchdachter Reihenfolge und mehr oder minder
symmetrischen Dreierreihen tragend. Die liebevoll auf einer ältlichen
Erika-Schreibmaschine getippten und nicht ganz so liebevoll mit einer
Ikea-Kinderschere mit gelben Plastikgriffen zugeschnittenen Etiketten mit den
Bildtiteln (nach Aussage der Betrachter das Tüpfelchen auf dem i) fanden ihren
Platz auf den wundervollen Kacheln, wo vorhanden.
Schon um halb zwölf Nachts begann dann der Ansturm der Massen, der gerne bis
drei, vier Uhr morgens anhielt; man sollte die Lepziger Kunstszene und das
Interesse daran eben keinesfalls unterschätzen. Nein, ich habe nicht die ganze
Zeit neben meinen Bildern gestanden. Zum einen habe ich versucht, in der
naheliegenden Pension Plagwitz etwas Ruhe zu finden (was mir durch einen
Spielmannszug, der auch dort „nächtigte“, nachhaltig vergällt wurde), zum
anderen wollte ich natürlich auch sehen, was es sonst noch so zu sehen gab.
(Viel, s.o.)
Der Samstag verlief bis etwa 14 Uhr verhältnismäßig ruhig und besucherarm;
nichts Ungewöhnliches, das war 2002 auch so (da war ich beim Banale Grande mit
diesen Bildern vertreten). Dafür ging es dann aber ab 14 Uhr noch einmal so
richtig rund - Familientag; Ursula von der Leyen hätte wahrhaftig Rührungstränen
in den Augen gehabt, wäre sie der Vielzahl von großzügig bekinderten Familien
und hochschwangeren Frauen ansichtig geworden, die ihren mehr oder weniger
kunstverständigen Nachwuchs mitgebracht hatten. Selbst der Kinosaal, in dem die
unfassbar schlechten „Phantomas“-Verfilmungen mit Luis de Funéz gezeigt wurden,
aber auch ein extrem zotiger Mel Brooks-Stummfilm (weshalb auch immer) und eine
geradezu unterirdische
Rock-Parodie auf das Phantom der Oper, erfreuten sich enormer Beliebtheit.
Stellt sich die Frage, ob ein Film, bei dem sich die Tischplatte aufgrund einer
Kollektiverektion hebt, so direkt kindgerecht ist - andererseits dürfte
allerdings auch die
„Gruseloma“ (Zitat eines Elternteils) nicht unbedingt der kindlichen
Nachtruhe zuträglich gewesen sein (gleichwohl es sich dabei, nebenbei bemerkt,
um meinen absoluten Favoriten aller Kunstwerke handelte).
Bis kurz nach eins nächtens riss der Besucherstrom dann nicht mehr ab; ich hatte
mich dann zum Schluss noch zu meinen Bildern gestellt, in der vagen Hoffnung
(aber auch aus Daffke), durch eine Kunstschlussverkaufsperformance („Lachhafte 2
€ pro Bild!“) wenigstens etwas von meinen Unkosten hereinzukriegen. Drei Fotos
verkauft. Naja, dafür signiert, und wer jetzt was haben will, muss 10 Euro
latzen. So. Dann übermannte mich die Müdigkeit und das Bewusstsein, morgen ja
doch wieder durch die türenknallenden, treppentrampelnden, flurschreienden
Musikanten in der Pension in aller Frühe geweckt zu werden, und ich überließ
meine Fotos (ihrem Schicksal).
Der Sonntag war dann anlassgerecht etwas trübwettrig; galt es doch, nun das Haus
wieder in seinen Urzustand zurückzuversetzen. Einige hatten noch in der Nacht
ihre Werke abmontiert; die Baustromversorgung war bereits gekappt; und um 12
ging das große Abbauen und Abtransportieren los. Auch ich verstaute dann meine
Bilder wieder in der roten Sammelmappe, die Stecknadeln in einem eilends
zusammen gepappten Tütchen und die 18 Meter Packpapier im Mülleimer. Hatte der
Aufbau schon so seine drei Stunden gedauert, war das Spurenbeseitigen in einer
dreiviertel Stunde getan.
Bleibt noch zu sagen, dass dies hoffentlich nicht die letzte
24-Stunden-Ausstellung der GalerieRieRiemann gewesen ist, und dass sich
einmal wieder die Gelegenheit zu weiteren Bildaufhängungen meinerseits bietet.
Und wenn im nächsten Jahr an einem anderen Ort in Leipzig wieder einen Tag lang
Kunst veranstaltet wird, sei es auch allen mitlesenden Berlinern dringend ans
Herz gelegt, sich in Zug oder Auto zu setzen und vorbeizuschauen. Man verpasst
sonst etwas. Wirklich.
Die Organisatoren dieser wunderbaren vielschichtigen Ausstellung, Karsten und Thilo von der GalerieRieRiemann, haben wieder einmal einen außergewöhnlichen Ort gefunden um Künstlern und Kreativen eine Bühne für Ihre Werke zu bieten. Häuser wie dieses gibt es noch einige in Leipzig, leergewohnt und im Sanierungsprozess und wieder nicht. Vergessen ruhen sie, wartend auf besser Zeiten mit mehr Menschen, auf eine Aufgabe wie diese. Diese alten Dame mit ihren schönen alten Wohnungen mit grandiosem Stuck und stilvolle Türrahmen stand für 24 Stunden im Mittelpunkt. Ein Dachboden der huldvoll zugerümpelt ist und nach Aktionskunst rief. Außentoiletten denen Leben eingehaucht wird. Räume die man auf dem Bauch liegend erforschen muss. Bilder, Fotos, Grafiken, Skulpturen, Installationen mit und ohne Licht die zum ausprobieren, reagieren und reflektieren aufforderten. Der Besucher nicht nur zum besuchen sondern als Teil der Ausstellung. Ein Ausstellung rund um das Thema ‘Phantome’. Bis zu 50 Schaffende hauchten dem so typischen Haus für Leipzig für kurze Zeit schönes Leben ein. Viele kamen, lauschten Geräuschen, wählten Identitäten, staunten, grübelten, wunderten sich. Ein gelungenes “Kunstfest” das uns in Erinnerung bleiben wird, da wir bald die Kneipe “Besser leben” im Erdgeschoß besuchen dürfen die dort Ihr neues Domizil eröffnen wird. (Karl-Heine Ecke Merseburger).